LIBIA CASTRO & ÓLAFUR ÓLAFSSON "DEIN LAND EXISTIERT NICHT"

21. SEPTEMBER - 15. Dezember 2018

MUSIK PERFORMANCE am Eröffnungsabend: 20. September 2018, 20 UHR
MUSIK PERFORMANCE in der Berlin Art Week: 29. September 2018, 16 - 20 UHR

LIBIA CASTRO & ÓLAFUR ÓLAFSSON

Dein Land existiert nicht und Cut-up Indeterminate Anthem

Der Satz „Dein Land existiert nicht“ ist ein starkes Stück. Stärker geht es vielleicht gar nicht. Als Kunst- werk hat dieser Satz die Welt bereist. Er ist an vielen unterschiedlichen Orten gezeigt worden, wobei die Geschichte und der politische Kontext dieser Orte unsere Wahrnehmung dieses Kunstwerks ebenso beein ussen wie die Tatsache, dass es auf ganz unterschiedliche Art und Weise realisiert worden ist: als Werbeschild, Plakat oder Neonschrift im öffentlichen Raum, als Gemälde, als Aufdruck auf Produkten, die als kommerzielle Massenware daherkommen – sogar als Musik-Performance oder als Ansage im Radio und im Fernsehen, um nur einige Medien und Erscheinungsformen zu nennen. Aus diesem Projekt ent- sprang eine Reihe weiterer Werke, von denen eine Auswahl hier zu sehen ist. Ebenfalls gezeigt wird die fortlaufende, musikalische und plastische Arbeit Cut-up Indeterminate Anthem (2018), für das Libia Castro & Ólafur Ólafsson Partitur-Fragmente verschiedener Nationalhymnen zu einem abspielbaren Noten-Mobile zusammengesetzt haben.

Ein Land zu haben – was bedeutet das? Wie sind Länder überhaupt entstanden? Was überhaupt ist eine Nationalhymne? Hast Du ein Land? Oder hat das Land Dich? Ein Land, das es vielleicht gar nicht gibt. Was ist ein Land? Und können wir überhaupt ein Land haben, wenn andere keines haben?

Natur ist eine Sache; die Frage, ob wir ein Recht darauf haben, die Natur zu besitzen, etwas anderes. Gesellschaft ist eine Sache; das Gefühl, dass sie von staatlicher Macht vereinnahmt wird, ist etwas ganz anderes. Wir bemühen uns Systeme herzustellen. Denn Leben bedeutet Chaos. Wir brauchen Systeme. Zumindest denken wir das. Nationalstaaten, Struktur, die Ansicht, dass manche Dinge gerechtfertigter sind als andere. Normen, Standards. Irgendetwas, das uns de niert, repräsentiert und voneinander unterschei- det. Wir sind abhängig geworden von etwas, das Rechte und Gesetzte legitimiert, auch wenn diesen eigentlich nur imaginierte und abgesteckte Grenzen – also Besitzverhältnisse – zugrunde liegen. Die Kons- truktion eines Hoheitsgebiets, das manche ein- und andere ausschließt. Den Glauben daran, dass die eine Melodie schöner klingt als die nebenan.

Anfang dieses Jahres wurde in Rotterdam die Kunsthalle for Music eröffnet, ein von dem Komponisten und Künstler Ari Benjamin Meyers initiiertes Projekt, unter der Schirmherrschaft des Witte de With Zent- rums für zeitgenössische Kunst in Rotterdam. Für die Eröffnungs-Show hatte die KfM ein Werk bei Castro & Ólafsson in Auftrag gegeben, das dort auch zur Aufführung kam. Das Ergebnis dieser Auftragsarbeit ist die Installation Cut-up Indeterminate Anthem. Hierbei handelt es sich um ein musikalisches und bildhauerisches Werk, das aus Teilen verschiedener Nationalhymnen besteht, die dafür seziert, vermischt und neu zusammengesetzt wurden. So entstand ein Partitur-Mobile, von dem Noten abgelesen und gespielt werden können. Bei der Uraufführung spielte das Ensemble der KfM; bei der Installation im Box Freiraum werden Musiker*innen der Freien Jugendorchesterschule Berlin die Interpreten sein, die das Werk aufführen, während sie sich durch den Raum bewegen. Für die Ausstellung im Box Freiraum hat das Künstlerduo ein neues Mobile-Element hinzugefügt, das Fragmente aus den Hymnen der Länder enthält, aus denen die Freiraum Mitarbeiter*innen stammen: der deutschen, georgischen, italienischen, slowakischen und syrischen Nationalhymne. So wird diese Dekomposition erweitert und verändert.

Jeder Refrain besitzt eine Struktur, ist ein System in sich. Wenn wir diese bedeutungsvollen Melodien hören, dann erkennen und identifizieren wir sie als Teil von uns selbst, entweder weil sie pathetisch und emo- tionsgeladen sind und so Erinnerungen wachrufen, oder aber einfach nur weil man uns erzählt hat, dass wir auf irgendeine Art von diesen Melodien repräsentiert werden. Die Sinfonie der Ideologie. Unserer Ideologie? Hier schweben sie durch die Luft und überschneiden sich mit anderen Melodien oder verschmelzen mit diesen. Stoßen aneinander. Ideen in Noten. Unser Land. Das es gar nicht gibt. Aber trotzdem.

Castro & Ólafsson fordern uns dazu auf, selbst Melodien zu zerschneiden, sie aufzulösen, Grenzen zwischen ihnen aufzuheben, Melodien zu vermischen. Und aus den Einzelteilen, neuen Paarbildungen und Gegenüberstellungen neue Melodien herzustellen. Darin steckt auch die Aufforderung zu hinterfragen, ob eine Sache wirklich richtiger sein kann als eine andere. Zu hinterfragen, wenn etwas als selbstverständlich, unantastbar oder unveränderlich gilt. Indem die Melodien selbst zur Disposition gestellt werden, können sie – anders repräsentiert – zu etwas Neuem werden. Indem sie sich vermischen und entgrenzen, unbeschränkt ineinander verloren gehen, das ursprünglich Ganze zersplittern und fragmentieren, entsteht ein neues Ganzes, das seinerseits niemals bestimmbar ist.

Text: Auður Jónsdóttir / Übersetzung: Kristof Magnusson

Libia Castro & Ólafur Ólafsson | Dein Land existiert nicht | 2013

Libia Castro & Ólafur Ólafsson | Dein Land existiert nicht | 2013