Schauplatz Berlin: Ich wollte bleiben, ich ging - von Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung
/19. Mai 2016 | Süddeutsche Zeitung
Von Gustav Seibt
In der "Box Freiraum" in Friedrichshain trugen junge Flüchtlinge ihre Erfahrungen als Gedichte vor: uncool, berührend, erhellend.
Dass männliche Jugendliche von vierzehn, siebzehn und achtzehn Jahren sich vor ein erwachsenes Publikum stellen und selbstgeschriebene Gedichte vortragen, gefühlvolle, ernste Gedichte, das wäre unter Deutschen ungewöhnlich. Coolness sieht anders aus, sie müsste über den Umweg der Form erarbeitet werden, beispielsweise als Rap. Allerdings hat Martin Mosebach vor ein paar Jahren in einer Rede im Münchner Lyrik-Kabinett darauf hingewiesen, dass das mit der Dichtung und der Männlichkeit im Orient etwas anders funktioniert. Er zitierte aus Briefen von türkischen Strafgefangenen, darunter Gewaltverbrechern, an ihre Mütter, in denen ganz unbefangen von Rosen und Mondlicht, Nachtigallen und Perlen die Rede war - so zierlich, ja überschmückt, wie kein Dichter der westlichen Welt mehr sprechen könnte.
In dieser Woche konnte man in der "Box Freiraum" in Friedrichshain minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen zuhören, die ihre schrecklichen Erfahrungen, den Schmerz von Heimatverlust, Trennung, Gefahr und Tod, ihre Gefühle von Verlorenheit und Zärtlichkeit in Gedichte gefasst haben. Die "Box" ist ein Begegnungsort, der nach seiner Adresse in der Boxhagener Straße benannt ist und der aus elegant rau sanierten ehemaligen Stallungen in einem geräumigen Innenhof besteht. Dort treffen sich unter der Leitung von Carolina Mojto seit vielen Monaten Geflüchtete, Helfer, Künstler, Musiker, oft nur zum gemeinsamen Kochen und Musizieren, daneben aber auch zu Ausstellungen, Filmen, Performances und Diskussionen. Hier ist nichts zu spüren von der elenden Langeweile der Herumwarterei auf die Berliner Ämter, nichts auch vom Gerede über "kippende Stimmung" und moralischen Katzenjammer.
Denn den "Rausch", gar "Kitsch", den Kritiker der Helferszene unterstellen, die wahrscheinlich noch nie ein Heim von innen gesehen haben, hat es ohnehin nie gegeben, also folgt bei denen, die Tag für Tag eine nüchterne, hingebungsvolle Arbeit leisten, nun auch kein Kater. Da ist bis heute nichts "gekippt". Das war auch das Resultat einer Podiumsdiskussion mit Journalisten, darunter Ulrich Wilhelm vom Bayerischen Rundfunk, Stephan Detjen vom Deutschlandfunk und Susanne Koelbl vom Spiegel, in der "Box". Sie beschloss nach dem Gedichtvortrag der Jugendlichen einen intensiven halbtägigen Kongress mit dem Titel "Thinking beyond ,crisis'". Der Stimmungswechsel mag ein Umfrage- und Talkshow-Phänomen sein, die Helfer betrifft er nicht, denn sie haben es mit Bedürftigen zu tun, die auch dann nicht verschwinden, wenn Wolfgang Streeck und Alice Schwarzer wieder einmal recht haben wollen. Dass es die Aufgabe der Medien bleibt, die Stimmungen nicht nur mit Talkshows hochzupeitschen, sondern auch über den stabil steinigen Alltag der Flüchtlinge und ihrer meist ganz bürgerlichen Unterstützer zu berichten oder auch über die allein schon bürokratische Mühsal, ein großes Wohnungsbauprogramm in Gang zu setzen, das mag banal klingen, ist es aber nicht, wenn man auf die Sender schaut.
Dass in der "Box" am Ende leiser, nachdenklicher diskutiert wurde, lag auch an Kahel Kaschmiri, Mohamad Mashghdost und Samiullah Rassouli, um ein paar Namen der von Susanne Koelbl betreuten jugendlichen Dichter zu nennen. Was sie vortrugen, war nicht orientalisch-blumig, aber auch nicht westlich-cool. Es war erschütternd, weil es Erfahrungen zur Sprache brachte, an denen andere zerbrechen: "Ein Toter lag auf dem Weg./ Sein Kopf war mit einem Tuch bedeckt./ Ein kleiner Junge wollte nicht weitergehen./ Der Schmuggler sagte, ich zeige dir etwas,/ danach wirst du schon laufen./ Und er führte ihn zu dem Toten."
Oder: "Ich liebte die Mutter. Sie starb. Ich wollte gehen, und ich blieb./ Ich wollte bleiben, ich ging."
Ach, Kitsch. Man hätte sich einen der Kitsch-Kritiker im Saal gewünscht. Sie wären übrigens in anregende Gesellschaft geraten, denn unter den Zuhörern saßen nicht nur Helfer und Journalisten, sondern auch kühle Beobachter wie der Kapitalismus-Theoretiker Joseph Vogl. Der Dokumentar-Veteran Rosa von Praunheim zeichnete den zweisprachigen Auftritt auf, von dem man heute schon weiß, dass er einmal ins Deutsche Historische Museum gehört, als eines unter vielen Zeugnissen. Was wird dann aus den Dichtern geworden sein?