Junge Flüchtlinge als Dichter - Ihre Gedichte sind auch unsere Geschichte - von Jan Russezki, F.A.Z.

Als unbegleitete Minderjährige sind sie zu uns geflohen. Gedichte sind für die acht Jugendlichen, der Tradition ihrer Heimat gemäß, ein Weg, ihre Erlebnisse zu schildern. Jetzt stellen sie ihre Werke in Berlin vor.

06. September 2016 | F.A.Z.

© Gudrun SengerKahel Kaschmiri ist aus Ghazni in Afghanistan, wo die Taliban die Region stark infiltriert haben. Kaschmiri überträgt seine Fluchterfahrungen nun in Gedichten auf eine Berliner Bühne.

© Gudrun Senger
Kahel Kaschmiri ist aus Ghazni in Afghanistan, wo die Taliban die Region stark infiltriert haben. Kaschmiri überträgt seine Fluchterfahrungen nun in Gedichten auf eine Berliner Bühne.

Wer eine Kultur verstehen will, der liest ihre Literatur. Um Deutschland zu verstehen, liest man seine Romane und Erzählungen. Der persischen Kultur hingegen nähert man sich am besten durch ihre Gedichte, ihnen kommt dort eine bedeutendere Rolle zu als bei uns. Ganze Generationen schreiben in lyrischer Sprache am Zeitgeschehen mit. Sie äußern ihre Gedanken und Gefühle zur Geschichte und Politik des Landes, aber auch zu Alltäglichem. Bei Festessen werden selbstgeschriebene Verse vorgetragen, genauso den Geliebten, und auch Familiengeschichten werden in ihnen festgehalten. Schon im Kindesalter nähern sich die Menschen auf diese Weise der Versform und Geschichte. Was erinnert werden soll, wird zum Gedicht, und was zum Gedicht wird, bleibt in Erinnerung.

Dass man dafür kein gestandener und prominenter Dichter sein muss, zeigen acht Jugendliche aus dem Iran und Afghanistan. Sie alle sind zwischen vierzehn und achtzehn Jahre alt und allein nach Berlin geflohen. In einem wöchentlichen Poesie-Workshop des Anwalts Aarash D. Spanta, der Journalistin Susanne Koelbl und des Künstlers Rottkay reflektierten sie ihre eigene Geschichte in Gedichtform. An diesem Dienstagabend, vor der offiziellen Eröffnung des Berliner Literaturfestivals, tragen sie sie der Öffentlichkeit vor. Sie lesen auf Persisch von ihren Gefühlen, Fluchterfahrungen und Erwartungen, dazu lesen die Schauspielerinnen Lydia Schamschula und Julia Huston die deutschen Fassungen.

Mit dem Projekt wolle sie die Fremdheit überwinden und die Poesie als Brücke zwischen den Menschen nutzen, sagt eine Gründerin des Workshops, Susanne Koelbl. Und tatsächlich vermitteln die Gedichte intime Einblicke in die Köpfe der Poeten und beschreiben, was Menschen auf der Flucht erleben. Der fünfzehn Jahre alte Ali Ahmade aus Bamian in Afghanistan schildert in seinem Gedicht die Ungewissheit seiner Zukunft, als er an der türkischen Küste ein Boot nach Griechenland besteigt:

Sei ruhig, sagst du zu mir und erinnerst mich daran,
dass du doch da bist.
Was morgen ist, das weiß ich nicht.
Verzeih, dass ich von morgen nichts sagen kann.
Aber heute bin ich ja noch da.

Ahmade vereint in diesem Gedicht die wichtigsten Themen der jungen Poeten: Flucht und Eltern. Fast alle Gedichte reflektieren die Flucht und verbinden sie zusätzlich mit ihrer Heimat, dem Glauben, der Frage nach sich selbst, aber am häufigsten mit ihren Eltern. Es verdeutlicht die Einsamkeit, die Unfreiwilligkeit der Flucht und immer wieder die Kraft, die allein der Gedanke an die beistehende Mutter spendet. Oder die natürliche Präsenz des entfernten Vaters, die Shahzamir Hataki wahrnimmt: „Du leuchtest wie die Sterne, mein Vater, / du bist hell wie der Mond.“ Vor allem aber verdeutlichen die Verse, dass es sich noch fast um Kinder handelt, die sich hilflos immer weiter von ihrer Heimat entfernen mussten – angetrieben von dem Willen, ihrer Familie zu helfen. Oder von Schleppern und dem Tod vorangetrieben, wie es Tamim aus Takhar in Afghanistan erzählt:

Es war nahe der Stadt von Maku.
Ein Toter lag auf dem Weg.
Sein Kopf war mit einem Tuch bedeckt.
Ein kleiner Junge wollte nicht
weitergehen.
Der Schmuggler sagte, ich zeige dir etwas,
danach wirst du schon laufen.
Und er führte ihn zu dem Toten.[…]

Was eine Flucht bedeutet, zeigt auch ein Auszug aus Shahzamir Hatakis Gedicht:

65 Menschen waren auf dem Boot. Der
Schmuggler deutete auf einen Berg, dort
ist Griechenland, sagte er.
Das Wasser fiel wie Wände auf uns
herab. Der Motor stoppte. Es waren viele
Kinder im Boot. Es kenterte.
Ich kann nicht schwimmen.
Zwei Minuten blieb ich unter Wasser, die
rote Weste zog mich an die Oberfläche.
Ich hatte furchtbare Angst. Es war
sehr kalt.
Alle schrien. Ich auch. Vor mir war
ein Kind. Ich tröstete es, du musst
nicht weinen, und ich wusste es doch
besser. Eine Mutter ertrank vor
meinen Augen, ihr Kind im Arm. […]

Berührende und dramatische Gedichte wie diese vermitteln eine Vorstellung von der Flucht und bringen uns die Menschen näher, die sie verfasst haben. Sie sind Zeugnisse der aktuellen humanitären Krisen. Aber auch ihre Kultur wird in der Lyrik vermittelt, denn obwohl die jugendlichen Dichter zum Teil ihre ersten Gedichte verfassen und nicht immer eine kontinuierliche Bildung genossen haben, zeigen die Texte, in welcher kulturellen Tradition sie stehen. Ähnlich wie die bekanntere persische Dichtung wirken diese Gedichte erzählend und prosaisch ohne den Gedichtcharakter zu verlieren.

Die lyrische Musikalität der jungen Poeten ist kaum ins Deutsche übertragbar. Beim 16. Internationalen Literaturfestival in Berlin kann man ihrer Dichtung, von ihnen selbst vorgetragen, zuhören und mit ihnen in Kontakt kommen. Die Geschichten, die sie erzählen, sind real, berührend und schreiben nun auch einen Teil der deutschen Geschichte.

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Quelle: F.A.Z.